ZUR EINFÜHRUNG
Wesen und Zeitbedingtheit der Philosophie
Es gibt viele Geschichten der Philosophie, gelehrte und ungelehrte, gescheite und törichte,
interessante und langweilige, aber es fehlt noch immer die Geschichte der Philosophie. Um
sie zu schreiben, ist in erster Reihe notwendig, die Philosophie vom Kopfe, auf dem sie in all
ihren bisherigen historischen Darstellungen steht, auf die Füße zu stellen. Mit anderen Worten:
man darf nicht in den Hirnwebereien der philosophischen Systeme den Schwerpunkt der
Philosophie suchen, sondern man muß von dem Standpunkt ausgehen, den F. A. Lange einmal
– freilich ohne daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen – mit den Worten andeutet:
„Es gibt keine sich aus sich selbst, sei es in Gegensätzen, sei es in direkter Linie, fortentwickelnde
Philosophie, sondern es gibt nur philosophierende Männer, welche mitsamt
ihren Lehren Kinder ihrer Zeit sind.“
Oder mit noch anderen Worten: die Philosophie ist eine ideologische Begleiterscheinung der
Klassenkämpfe, eine der ideologischen Formen; in denen die Menschen sich dieser Kämpfe
bewußt werden und sie ausfechten. Es hat keine Philosophie gegeben, solange es keine Klassengegensätze
gab, und sobald die Klassengegensätze beseitigt sein werden, wird es keine
Philosophie im historischen Sinne dieses Wortes mehr geben. Erst aus der Geschichte der
Klassenkämpfe fällt das scheidende und sondernde Licht in die scheinbar unübersehbare
Wirrnis der philosophischen Systeme, und man findet dann – was Schopenhauer einmal andeutet,
auch er, ohne daraus die [8] notwendigen Konsequenzen zu ziehen –‚ daß die wenigen
Fundamentalsätze aller Philosophie in unzähligen Variationen immer wiederkehren und daß
auch die bedeutendsten Werke der bedeutendsten Philosophen von ewigen Wiederholungen
wimmeln. Alles das ist für den modernen Menschen, der mitten in Klassenkämpfen steht, die
längst ihre ideologischen Schleier abgeworfen haben, mehr oder weniger ungenießbar, aber
unter dem Gesichtspunkt betrachtet, unter dem die philosophischen Systeme je für ihre Zeit
Gestalt und Leben gewonnen haben, ließe sich die Geschichte der Philosophie als ein bedeutsames
und lehrreiches Stück der menschheitlichen Geschichte schreiben.
Nur für die Anfänge der Philosophie, die griechische Naturphilosophie, versagt dieser Maß-
stab insofern, als sie uns nur in sehr trümmerhaften Bruchstücken überliefert und wir gar zuwenig
von den Zeitumständen wissen, unter denen sie entstanden ist. Aus diesem nicht innerlichen,
sondern rein äußerlichen Grunde vermögen wir die erste Form der griechischen Philosophie
nur in den allgemeinsten Umrissen als eine Widerspiegelung gleichzeitiger Klassenkämpfe
zu erkennen. Aber gleich in der zweiten Periode tritt der Idealismus des „göttlichen
Platon“, dessen Wirkungen sich bis in unsere Zeit erstrecken, als die ideologische Begleiterscheinung
der grausamsten und rohesten Klassenherrschaft auf, die es in der damaligen griechischen
Welt gegeben hat. Nichts törichter als das Geflenne, das sich von einem philosophischen
Lehrbuch ins andere über den „Märtyrertod“ des Sokrates schleppt, über den „Justizmord“,
den die törichte Menge an dem großen Weisen begangen haben soll. Sokrates ist gerichtet
worden als der Wortführer einer Klasse, die durch eine Unsumme von bluttriefender
Grausamkeit, Tücke und Verrat, wobei gerade Lieblingsschüler des Sokrates, wie Alcibiades
und Kritias in erster Reihe standen, die Stadt Athen in ihrer Kraft gebrochen und in einen
tiefen Abgrund des Elends gestürzt hatte. Statt die Würde eines „Märtyrers“ zu zeigen, hat
Sokrates seine Richter viel-[9]mehr – wenn anders seinem Schüler Platon zu glauben ist noch
durch frivole Herausforderungen gereizt, und Justizmord hin, Justizmord her – wenn es in der
Geschichte der Klassenkämpfe keinen schlimmeren Justizmord gäbe als die Hinrichtung des
Sokrates, so sähe sie in diesem Punkte beinahe noch wie ein harmloses Idyll aus.
In der Geschichte der neueren Philosophie können gar so tolle Verschiebungen des historischen
Sachverhalts nicht mehr vorkommen. Der Zusammenhang zwischen den ökonomischpolitischen
Klassenkämpfen einer Zeit und ihrer jeweiligen Philosophie tritt hier so klar hervor,
daß er sich auch dem blödesten Auge aufdrängt. Aber in den herkömmlichen Geschichtsbüchern
über Philosophie wird das, was neuere Philosophen über Ökonomie und Politik
zusagen gehabt haben, regelmäßig in den Hintergrund gedrängt gegen ihre allgemeine
Hirnweberei in irgendwelchen Ismen, die nicht die Ursache, sondern vielmehr die Folge ihrer
praktischen Stellung zu den praktischen Fragen ihrer Zeit ist. So wird John Locke, dessen
zweihundertster Todestag übermorgen1 wiederkehrt, als Philosoph des Sensualismus einregistriert,
und eben in diesen Sensualismus der Schwerpunkt seiner historischen Stellung gelegt,
womit an und für sich gar nichts gesagt ist. Denn die Annahme, daß unsere gesamten Vorstellungen
ursprünglich auf sinnlicher Wahrnehmung, auf den Affektionen der Sinne beruhen,
bringt die historische Entwicklung nicht um einen Flohsprung vorwärts, während John Locke
tatsächlich einen großen Einfluß namentlich auf das 18. Jahrhundert gehabt hat.
Er war der klassische Typ des englischen Bourgeois um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert.
Das Lebenswerk, das er vollbracht hat, bestand in der Rechtfertigung und Verteidigung
des Kompromisses, womit die englische Bourgeoisie die englische Revolution des 17. Jahrhunderts
abschloß, indem sie gemeinsam mit dem Adel ein Schattenkönigtum schuf, aber alle
politische Macht in das Parlament verlegte. Ökonomisch gehörte Locke zu den Vorläufern
des [10] physiokratischen Systems, über das Marx schreibt: „Es ist in der Tat das erste System,
das die kapitalistische Produktion analysiert und die Bedingungen, innerhalb deren Kapital
produziert wird [...]‚ als ewige Naturgesetze der Produktion darstellt. Andrerseits erscheint
es vielmehr als eine bürgerliche Reproduktion des Feudalsystems, der Herrschaft des
Grundeigentums; und die industriellen Sphären, innerhalb deren das Kapital sich zuerst selbständig
entwickelt, erscheinen vielmehr als ‚unproduktive‘ Arbeitszweige, bloße Anhängsel
der Agrikultur. Die erste Bedingung der Kapitalentwicklung ist die Trennung des Grundeigentums
von der Arbeit, das [...] Gegenübertreten der Erde – dieser Urbedingung der Arbeit –
als selbständige Macht, in der Hand einer besondren Klasse befindliche Macht, gegenüber
dem freien Arbeiter. In dieser Darstellung erscheint daher der Grundeigentümer als der eigentliche
Kapitalist, das heißt als der Aneigner der Surplusarbeit. Der Feudalismus wird so
sub specie [unter dem Gesichtspunkt] der bürgerlichen Produktion reproduziert und erklärt
wie die Agrikultur als der Produktionszweig, worin sich die kapitalistische Produktion, das
heißt die Produktion des Mehrwerts, ausschließlich darstellt. Indem so der Feudalismus verbürgerlicht
wird, erhält die bürgerliche Gesellschaft einen feudalen Schein.“*, 2
Das physiokratische System entfaltete seine eigentliche Blüte in Frankreich, in einem vorherrschend
ackerbauenden Lande, nicht in England, einem vorherrschend industriellen,
kommerziellen, seefahrenden Lande. Bei dem Ökonomen Locke zeigt sich vielmehr ein polemisches
Interesse gegen das Grundeigentum, dessen Rente sich durchaus nicht von dem
Wucher unterscheide. Aber wie Locke zwei Menschenalter hindurch als Arzt, Erzieher und
Sekretär im Hause des Lords Shaftesbury lebte, so [11] war er der Interpret der „glorreichen
Revolution“ von 1688, von der man wohl sagen kann, daß sie den Feudalismus verbürger-
1 Demnach wurde dieser Text am 26.10.1904 geschrieben.
* Diese glänzende Schilderung, die Marx von dem physiokratischen System entwirft, ist seiner Nachlaßschrift
über die „Theorien des Mehrwerts“ entnommen, die Kautsky demnächst herausgeben wird.
2 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Teil 1, Berlin 1956, S. 15 f.
lichte, aber der bürgerlichen Gesellschaft einen feudalen Schein gab. Gewiß hat Locke für die
politische und religiöse Freiheit gekämpft, jedoch wie matt und nüchtern erscheint dieser
Kampf neben den flammenden Schriften, die Milton gegen das patriarchalische Königtum
von Gottes Gnaden gerichtet hatte. In anderem Sinne, als es ursprünglich gemeint war, aber
deshalb nicht minder schlagend erfüllte sich Miltons Wort, die Briten seien unversehrt durch
das Feuer gegangen, um dann am Qualm zu sterben. In der Tat verqualmte das republikanische
Feuer im Konstitutionalismus, als dessen Vater oder richtiger als dessen literarischer
Taufpate sich Locke den lautesten Ruhm erworben hat.
Er hat diesen Konstitutionalismus einfach dem Kompromiß abgeschrieben, das die englische
Revolution geschlossen hatte. Seine berühmte „Trennung der Gewalten“, wonach die regierende,
die gesetzgebende und die richterliche Gewalt voneinander geschieden werden und
sich gegenseitig im Gleichgewicht halten sollten, hieß weiter nichts, als daß dem König jede
Gewalt über Gesetzgebung und Rechtsprechung genommen und regierende, gesetzgebende
und richterliche Gewalt der herrschenden Aristokratie und Bourgeoisie übertragen werden
sollten. Es gibt wenig gleich einleuchtende Beweise für die verblendende Macht der Phrase,
als daß ein paar Jahrhunderte lang die englische Verfassung als Muster für die „Trennung der
Gewalten“ gegolten hat, während jedes Kind weiß oder doch wissen sollte, daß in England
regierende und gesetzgebende Gewalt eben nicht getrennt ist, daß der Vertrauensmann der
Parlamentsmehrheit unweigerlich leitender Minister wird. Lockes konstitutionelles Rezept,
angewandt auf Monarchien, deren reale Macht noch nicht gebrochen war, hat denn auch regelmäßig
die schmerzlichsten oder auch die lächerlichsten Enttäuschungen hervorgerufen,
wovon namentlich die deutschen Revolutionsjahre zu erzählen wissen.
[12] Dem Konstitutionalismus Lockes entsprach die Halbheit seiner bürgerlichen Toleranz.
Sicherlich war sie etwas anderes als die sogenannte Toleranz des aufgeklärten Despotismus,
wie sie etwa von dem alten Fritz geübt wurde, aber sie erstreckte sich doch nicht auf – Atheisten.
Hier war der sterbliche Punkt der bürgerlichen Aufklärung, wie sie Locke und sein grö-
ßerer Schüler Voltaire vertreten, mit einzelnen glänzenden Ausnahmen, wie Pierre Bayle.
Gegen ihn sagte Voltaire; man möge ihm nur vier- oder fünfhundert Bauern zu regieren geben,
und Bayle würde alsbald die Lehre von der göttlichen Vergeltung predigen lassen. Es ist
derselbe Pferdefuß, der dann auch in Kants Philosophie wieder erschien, die erst die radikale
Unmöglichkeit Gottes demonstriert und dann das Dasein Gottes als die notwendige Voraussetzung
alles sittlichen Handelns bewies. Das „vernunftmäßige Christentum“ Lockes war
nichts anderes als das dem Herrschaftsbedürfnis der „glorreichen Revolution“ angepaßte
Christentum.
Alle harten Ecken und Kanten der rauhen Wirklichkeit glättete Locke nun durch seinen Sensualismus.
Der Satz selbst, daß im Geiste nichts sein könne, was nicht vorher in den Sinnen
gewesen sei, war durchaus nicht neu, war schon im Aristoteles zu finden. Was Locke daraus
machte, war einfach dies: daß der Mensch nur durch die Erfahrung klug werde, daß er sich
also hüten solle, mit dem Kopfe durch die Wand zu rennen, daß alle Begeisterung und
Schwärmerei von Übel sei, daß nichts über den gesunden Menschenverstand des guten Bürgers
gehe.
So stellt sich Lockes Weltanschauung als höchst prosaisch, als ganz starr und steril dar. Allerdings
hat man auch „sozialistische“ Anklänge in seinen Schriften nachweisen wollen, weil
er gewisse Schranken des Privateigentums anerkannte, weil er die Naturdinge für gemeinschaftliches
Eigentum erklärte und das individuelle Eigentum nur insoweit verteidigte, als es
der einzelne Mensch durch seine Arbeit verwerten könne, weil er das Eigentum an einem
größeren Umfang der Produktionsmittel als dem [13] eben angedeuteten im Widerspruch mit
der naturrechtlichen Basis des Eigentums oder des Rechtes am Privateigentum fand. Allein
das waren keine ökonomischen Forderungen der sozialistischen an die kapitalistische, es waren
Rechtsansprüche der bürgerlichen an die feudale Gesellschaft; es waren die Illusionen des
Naturrechtes, das mit den Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise Hand in Hand
ging und in dem Maße zerstob, worin sich ihre holden Geheimnisse entschleierten. Von
nichts war Lockes harter und trockener Geist weiter entfernt als von kommunistischen und
sozialistischen Schwärmereien, wie sie zu seiner Zeit überhaupt erst möglich waren.
Aber eben in dieser Beschränkung war er doch wieder ein Meister der bürgerlichen Aufklä-
rung, der auf ungleich reichere und vielseitigere Geister, wie Montesquieu, Voltaire, Diderot
und überhaupt die französische Geistesbewegung des 18. Jahrhunderts, den stärksten Einfluß
gehabt hat. Das dürfen wir um so eher anerkennen, je glücklicher wir sind, ganz und gar aus
seinem Gedankenkreise hinausgewachsen zu sein. [15]
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Wesen und Zeitbedingtheit der Philosophie
Es gibt viele Geschichten der Philosophie, gelehrte und ungelehrte, gescheite und törichte,
interessante und langweilige, aber es fehlt noch immer die Geschichte der Philosophie. Um
sie zu schreiben, ist in erster Reihe notwendig, die Philosophie vom Kopfe, auf dem sie in all
ihren bisherigen historischen Darstellungen steht, auf die Füße zu stellen. Mit anderen Worten:
man darf nicht in den Hirnwebereien der philosophischen Systeme den Schwerpunkt der
Philosophie suchen, sondern man muß von dem Standpunkt ausgehen, den F. A. Lange einmal
– freilich ohne daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen – mit den Worten andeutet:
„Es gibt keine sich aus sich selbst, sei es in Gegensätzen, sei es in direkter Linie, fortentwickelnde
Philosophie, sondern es gibt nur philosophierende Männer, welche mitsamt
ihren Lehren Kinder ihrer Zeit sind.“
Oder mit noch anderen Worten: die Philosophie ist eine ideologische Begleiterscheinung der
Klassenkämpfe, eine der ideologischen Formen; in denen die Menschen sich dieser Kämpfe
bewußt werden und sie ausfechten. Es hat keine Philosophie gegeben, solange es keine Klassengegensätze
gab, und sobald die Klassengegensätze beseitigt sein werden, wird es keine
Philosophie im historischen Sinne dieses Wortes mehr geben. Erst aus der Geschichte der
Klassenkämpfe fällt das scheidende und sondernde Licht in die scheinbar unübersehbare
Wirrnis der philosophischen Systeme, und man findet dann – was Schopenhauer einmal andeutet,
auch er, ohne daraus die [8] notwendigen Konsequenzen zu ziehen –‚ daß die wenigen
Fundamentalsätze aller Philosophie in unzähligen Variationen immer wiederkehren und daß
auch die bedeutendsten Werke der bedeutendsten Philosophen von ewigen Wiederholungen
wimmeln. Alles das ist für den modernen Menschen, der mitten in Klassenkämpfen steht, die
längst ihre ideologischen Schleier abgeworfen haben, mehr oder weniger ungenießbar, aber
unter dem Gesichtspunkt betrachtet, unter dem die philosophischen Systeme je für ihre Zeit
Gestalt und Leben gewonnen haben, ließe sich die Geschichte der Philosophie als ein bedeutsames
und lehrreiches Stück der menschheitlichen Geschichte schreiben.
Nur für die Anfänge der Philosophie, die griechische Naturphilosophie, versagt dieser Maß-
stab insofern, als sie uns nur in sehr trümmerhaften Bruchstücken überliefert und wir gar zuwenig
von den Zeitumständen wissen, unter denen sie entstanden ist. Aus diesem nicht innerlichen,
sondern rein äußerlichen Grunde vermögen wir die erste Form der griechischen Philosophie
nur in den allgemeinsten Umrissen als eine Widerspiegelung gleichzeitiger Klassenkämpfe
zu erkennen. Aber gleich in der zweiten Periode tritt der Idealismus des „göttlichen
Platon“, dessen Wirkungen sich bis in unsere Zeit erstrecken, als die ideologische Begleiterscheinung
der grausamsten und rohesten Klassenherrschaft auf, die es in der damaligen griechischen
Welt gegeben hat. Nichts törichter als das Geflenne, das sich von einem philosophischen
Lehrbuch ins andere über den „Märtyrertod“ des Sokrates schleppt, über den „Justizmord“,
den die törichte Menge an dem großen Weisen begangen haben soll. Sokrates ist gerichtet
worden als der Wortführer einer Klasse, die durch eine Unsumme von bluttriefender
Grausamkeit, Tücke und Verrat, wobei gerade Lieblingsschüler des Sokrates, wie Alcibiades
und Kritias in erster Reihe standen, die Stadt Athen in ihrer Kraft gebrochen und in einen
tiefen Abgrund des Elends gestürzt hatte. Statt die Würde eines „Märtyrers“ zu zeigen, hat
Sokrates seine Richter viel-[9]mehr – wenn anders seinem Schüler Platon zu glauben ist noch
durch frivole Herausforderungen gereizt, und Justizmord hin, Justizmord her – wenn es in der
Geschichte der Klassenkämpfe keinen schlimmeren Justizmord gäbe als die Hinrichtung des
Sokrates, so sähe sie in diesem Punkte beinahe noch wie ein harmloses Idyll aus.
In der Geschichte der neueren Philosophie können gar so tolle Verschiebungen des historischen
Sachverhalts nicht mehr vorkommen. Der Zusammenhang zwischen den ökonomischpolitischen
Klassenkämpfen einer Zeit und ihrer jeweiligen Philosophie tritt hier so klar hervor,
daß er sich auch dem blödesten Auge aufdrängt. Aber in den herkömmlichen Geschichtsbüchern
über Philosophie wird das, was neuere Philosophen über Ökonomie und Politik
zusagen gehabt haben, regelmäßig in den Hintergrund gedrängt gegen ihre allgemeine
Hirnweberei in irgendwelchen Ismen, die nicht die Ursache, sondern vielmehr die Folge ihrer
praktischen Stellung zu den praktischen Fragen ihrer Zeit ist. So wird John Locke, dessen
zweihundertster Todestag übermorgen1 wiederkehrt, als Philosoph des Sensualismus einregistriert,
und eben in diesen Sensualismus der Schwerpunkt seiner historischen Stellung gelegt,
womit an und für sich gar nichts gesagt ist. Denn die Annahme, daß unsere gesamten Vorstellungen
ursprünglich auf sinnlicher Wahrnehmung, auf den Affektionen der Sinne beruhen,
bringt die historische Entwicklung nicht um einen Flohsprung vorwärts, während John Locke
tatsächlich einen großen Einfluß namentlich auf das 18. Jahrhundert gehabt hat.
Er war der klassische Typ des englischen Bourgeois um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert.
Das Lebenswerk, das er vollbracht hat, bestand in der Rechtfertigung und Verteidigung
des Kompromisses, womit die englische Bourgeoisie die englische Revolution des 17. Jahrhunderts
abschloß, indem sie gemeinsam mit dem Adel ein Schattenkönigtum schuf, aber alle
politische Macht in das Parlament verlegte. Ökonomisch gehörte Locke zu den Vorläufern
des [10] physiokratischen Systems, über das Marx schreibt: „Es ist in der Tat das erste System,
das die kapitalistische Produktion analysiert und die Bedingungen, innerhalb deren Kapital
produziert wird [...]‚ als ewige Naturgesetze der Produktion darstellt. Andrerseits erscheint
es vielmehr als eine bürgerliche Reproduktion des Feudalsystems, der Herrschaft des
Grundeigentums; und die industriellen Sphären, innerhalb deren das Kapital sich zuerst selbständig
entwickelt, erscheinen vielmehr als ‚unproduktive‘ Arbeitszweige, bloße Anhängsel
der Agrikultur. Die erste Bedingung der Kapitalentwicklung ist die Trennung des Grundeigentums
von der Arbeit, das [...] Gegenübertreten der Erde – dieser Urbedingung der Arbeit –
als selbständige Macht, in der Hand einer besondren Klasse befindliche Macht, gegenüber
dem freien Arbeiter. In dieser Darstellung erscheint daher der Grundeigentümer als der eigentliche
Kapitalist, das heißt als der Aneigner der Surplusarbeit. Der Feudalismus wird so
sub specie [unter dem Gesichtspunkt] der bürgerlichen Produktion reproduziert und erklärt
wie die Agrikultur als der Produktionszweig, worin sich die kapitalistische Produktion, das
heißt die Produktion des Mehrwerts, ausschließlich darstellt. Indem so der Feudalismus verbürgerlicht
wird, erhält die bürgerliche Gesellschaft einen feudalen Schein.“*, 2
Das physiokratische System entfaltete seine eigentliche Blüte in Frankreich, in einem vorherrschend
ackerbauenden Lande, nicht in England, einem vorherrschend industriellen,
kommerziellen, seefahrenden Lande. Bei dem Ökonomen Locke zeigt sich vielmehr ein polemisches
Interesse gegen das Grundeigentum, dessen Rente sich durchaus nicht von dem
Wucher unterscheide. Aber wie Locke zwei Menschenalter hindurch als Arzt, Erzieher und
Sekretär im Hause des Lords Shaftesbury lebte, so [11] war er der Interpret der „glorreichen
Revolution“ von 1688, von der man wohl sagen kann, daß sie den Feudalismus verbürger-
1 Demnach wurde dieser Text am 26.10.1904 geschrieben.
* Diese glänzende Schilderung, die Marx von dem physiokratischen System entwirft, ist seiner Nachlaßschrift
über die „Theorien des Mehrwerts“ entnommen, die Kautsky demnächst herausgeben wird.
2 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Teil 1, Berlin 1956, S. 15 f.
lichte, aber der bürgerlichen Gesellschaft einen feudalen Schein gab. Gewiß hat Locke für die
politische und religiöse Freiheit gekämpft, jedoch wie matt und nüchtern erscheint dieser
Kampf neben den flammenden Schriften, die Milton gegen das patriarchalische Königtum
von Gottes Gnaden gerichtet hatte. In anderem Sinne, als es ursprünglich gemeint war, aber
deshalb nicht minder schlagend erfüllte sich Miltons Wort, die Briten seien unversehrt durch
das Feuer gegangen, um dann am Qualm zu sterben. In der Tat verqualmte das republikanische
Feuer im Konstitutionalismus, als dessen Vater oder richtiger als dessen literarischer
Taufpate sich Locke den lautesten Ruhm erworben hat.
Er hat diesen Konstitutionalismus einfach dem Kompromiß abgeschrieben, das die englische
Revolution geschlossen hatte. Seine berühmte „Trennung der Gewalten“, wonach die regierende,
die gesetzgebende und die richterliche Gewalt voneinander geschieden werden und
sich gegenseitig im Gleichgewicht halten sollten, hieß weiter nichts, als daß dem König jede
Gewalt über Gesetzgebung und Rechtsprechung genommen und regierende, gesetzgebende
und richterliche Gewalt der herrschenden Aristokratie und Bourgeoisie übertragen werden
sollten. Es gibt wenig gleich einleuchtende Beweise für die verblendende Macht der Phrase,
als daß ein paar Jahrhunderte lang die englische Verfassung als Muster für die „Trennung der
Gewalten“ gegolten hat, während jedes Kind weiß oder doch wissen sollte, daß in England
regierende und gesetzgebende Gewalt eben nicht getrennt ist, daß der Vertrauensmann der
Parlamentsmehrheit unweigerlich leitender Minister wird. Lockes konstitutionelles Rezept,
angewandt auf Monarchien, deren reale Macht noch nicht gebrochen war, hat denn auch regelmäßig
die schmerzlichsten oder auch die lächerlichsten Enttäuschungen hervorgerufen,
wovon namentlich die deutschen Revolutionsjahre zu erzählen wissen.
[12] Dem Konstitutionalismus Lockes entsprach die Halbheit seiner bürgerlichen Toleranz.
Sicherlich war sie etwas anderes als die sogenannte Toleranz des aufgeklärten Despotismus,
wie sie etwa von dem alten Fritz geübt wurde, aber sie erstreckte sich doch nicht auf – Atheisten.
Hier war der sterbliche Punkt der bürgerlichen Aufklärung, wie sie Locke und sein grö-
ßerer Schüler Voltaire vertreten, mit einzelnen glänzenden Ausnahmen, wie Pierre Bayle.
Gegen ihn sagte Voltaire; man möge ihm nur vier- oder fünfhundert Bauern zu regieren geben,
und Bayle würde alsbald die Lehre von der göttlichen Vergeltung predigen lassen. Es ist
derselbe Pferdefuß, der dann auch in Kants Philosophie wieder erschien, die erst die radikale
Unmöglichkeit Gottes demonstriert und dann das Dasein Gottes als die notwendige Voraussetzung
alles sittlichen Handelns bewies. Das „vernunftmäßige Christentum“ Lockes war
nichts anderes als das dem Herrschaftsbedürfnis der „glorreichen Revolution“ angepaßte
Christentum.
Alle harten Ecken und Kanten der rauhen Wirklichkeit glättete Locke nun durch seinen Sensualismus.
Der Satz selbst, daß im Geiste nichts sein könne, was nicht vorher in den Sinnen
gewesen sei, war durchaus nicht neu, war schon im Aristoteles zu finden. Was Locke daraus
machte, war einfach dies: daß der Mensch nur durch die Erfahrung klug werde, daß er sich
also hüten solle, mit dem Kopfe durch die Wand zu rennen, daß alle Begeisterung und
Schwärmerei von Übel sei, daß nichts über den gesunden Menschenverstand des guten Bürgers
gehe.
So stellt sich Lockes Weltanschauung als höchst prosaisch, als ganz starr und steril dar. Allerdings
hat man auch „sozialistische“ Anklänge in seinen Schriften nachweisen wollen, weil
er gewisse Schranken des Privateigentums anerkannte, weil er die Naturdinge für gemeinschaftliches
Eigentum erklärte und das individuelle Eigentum nur insoweit verteidigte, als es
der einzelne Mensch durch seine Arbeit verwerten könne, weil er das Eigentum an einem
größeren Umfang der Produktionsmittel als dem [13] eben angedeuteten im Widerspruch mit
der naturrechtlichen Basis des Eigentums oder des Rechtes am Privateigentum fand. Allein
das waren keine ökonomischen Forderungen der sozialistischen an die kapitalistische, es waren
Rechtsansprüche der bürgerlichen an die feudale Gesellschaft; es waren die Illusionen des
Naturrechtes, das mit den Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise Hand in Hand
ging und in dem Maße zerstob, worin sich ihre holden Geheimnisse entschleierten. Von
nichts war Lockes harter und trockener Geist weiter entfernt als von kommunistischen und
sozialistischen Schwärmereien, wie sie zu seiner Zeit überhaupt erst möglich waren.
Aber eben in dieser Beschränkung war er doch wieder ein Meister der bürgerlichen Aufklä-
rung, der auf ungleich reichere und vielseitigere Geister, wie Montesquieu, Voltaire, Diderot
und überhaupt die französische Geistesbewegung des 18. Jahrhunderts, den stärksten Einfluß
gehabt hat. Das dürfen wir um so eher anerkennen, je glücklicher wir sind, ganz und gar aus
seinem Gedankenkreise hinausgewachsen zu sein. [15]